Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt – Berliner Zeitung

26.01.2009

"Die Ukraine ist kein Bordell ! "

Anna Hutsol kämpft mit ihrer Organisation Femen und provokanten Aktionen gegen Sextourismus und Klischees.

 

Von Matthias Kolb.

KIEW. Vor der türkischen Botschaft in Kiew stehen fünfzig junge Frauen, rufen Slogans und schwenken Plakate. "Die Ukraine ist kein Bordell", steht darauf in türkischer, englischer und russischer Sprache. Mehrere Frauen sind als Krankenschwestern verkleidet, sie tragen kurze Röcke und hochhackige Schuhe. Als sich einige Männer nähern und die Mädchen betatschen wollen, zücken diese ihre Spritzen und impfen die Angreifer, die von Schauspielern dargestellt werden. Die Zuschauer jubeln und rufen: "Go home, sex tourist!" - geh nach Hause, Sextourist. Das kurze Video, das die erfolgreiche Aktion der Gruppe Femen dokumentiert, ist zu Ende, zufrieden klappt Anna Hutsol ihr Notebook zu. Die 24-Jährige sitzt in einem Café in Kiew und erzählt: "Ich habe die Gruppe im Frühjahr 2008 gegründet, weil es in der Ukraine keine Organisation gab, die für junge Frauen und Studentinnen interessant war und sich um unsere Probleme kümmerte." Hutsol möchte mit Femen Themen ansprechen, die alle Ukrainer kennen und trotzdem ignorieren - wie etwa das Problem der Prostitution und des Sextourismus. Fast alle wissen, dass Ausländer nach Kiew oder nach Odessa reisen, weil sie dort billigen Sex kaufen können. "Seit die Ukraine 2005 die Visumspflicht aufgehoben hat, nimmt die Zahl zu", erklärt Anna Hutsol. Der Markt boomt: Im Internet werden entsprechende Reisen angeboten, die Stadtmagazine sind voller Anzeigen für Massagesalons und sogenannten Begleit-Service. "Für viele Touristen ist jede Ukrainerin eine Nutte", sagt die 20-jährige Sascha. Die hübsche Studentin mit den langen, blonden Haaren kennt das Gefühl, wie "ein Stück Fleisch" angegafft zu werden. Eine Umfrage unter 1 200 Kiewer Studentinnen ergab, dass zwei Drittel unanständige Angebote von Ausländern bekommen haben - türkische Geschäftsleute fielen besonders negativ auf. In Kiew, der Drei-Millionen-Stadt, in der mehr Bentleys fahren als in München, kann manche Studentin dem schnellen Geld nicht widerstehen, wie Nastja berichtet: "Meine Mitbewohnerin ist mit einem Engländer mitgegangen. Sie sagte mir, dass sie kein Geld mehr hatte." Viele Mädchen, so Anna Hutsol, kämen mit 17 zum Studium in die Stadt und ließen sich vom Glitzer blenden: iPods gehören zum Standard wie Gucci-Taschen, auch wenn sie gefälscht sind. Die Mädchen von Femen haben eine einfache, aber wirkungsvolle Strategie: Sie sorgen mit Aktionen wie dem Spektakel vor der Botschaft für so gute Bilder, dass die ukrainischen Medien berichten - Fotos erschienen auch in ausländischen Magazinen und Zeitungen wie Newsweek, Daily Telegraph und Spiegel. Im Herbst organisierte Femen eine Schlammschlacht auf dem Platz Majdan, um das Politik-Chaos im Land zu kritisieren: Drei Mädchen trugen Bikinis in den Farben der wichtigsten Parteien und bewarfen einander mit Schmutz. Die Mädchen wissen, dass sexy Outfits mehr Aufmerksamkeit wecken als Flugblätter. "Trügen wir Schürzen, würde man uns nicht beachten", entgegnet Anna Hutsol den Kritikern. Sie weiß, wie Medien funktionieren. Nach ihrem Betriebswirtschafts-Studium organisierte sie Konzerte ukrainischer Bands. Aufgewachsen ist Hutsol als Sowjetkind in einer russischen Kleinstadt, bevor sie in der Ukraine zur Uni ging. Dort engagierte sie sich in der Studentenvereinigung, und als die Männer die Mädchen nicht ernst nahmen, gründete sie eine Gruppe. Femen hat viel Staub aufgewirbelt, dabei gibt es bisher weder offizielle Mitglieder noch ein Budget oder ein Büro - aber Präsenz im Internet: Es gibt einen Blog und über die Online-Plattform vkontakte informieren sich mehr als 12 000 Leute. Etwa 50 junge Frauen und Männer treffen sich regelmäßig in einem Café, um Aktionen zu planen. "Männer sind mehr als willkommen", sagt Hutsol. Es wird viel gelacht bei den Treffen, jeder macht Vorschläge, oft reden alle durcheinander. Doch immer wieder blicken alle zu Anna Hutsol, die rauchend in der Ecke sitzt. Ohne ihre Zustimmung läuft wenig. Sie ist Motor und Vorbild, auch wenn sie bei den Aktionen meist am Rande steht, für den reibungslosen Ablauf sorgt und mit Reportern redet. Die meisten Mitglieder machen bald Abitur oder studieren. Viele verbringen seit Wochen jede freie Minute mit der Arbeit für Femen. "Hier werde ich ernst genommen", sagt Irina. Die 18-Jährige studiert Modedesign, aber nun hat sie andere Pläne: "Vielleicht werde ich später Premierministerin." Viele ärgern sich wie Sascha über Vorurteile: "Bei uns denken immer noch viele, dass sich Frauen um Kinder, Familie und die Küche kümmern sollen. Ich wünsche mir, dass sich mehr Ukrainerinnen für Politik interessieren und nicht still bleiben." Das nächste Ziel der Gruppe: Sie will in den anderen ukrainischen Städten aktiv werden. "Diese Art des Protests ist neu in der Ukraine", sagt Kyrill Savin von der Heinrich-Böll-Stiftung. Femen setze wichtige Themen auf die Tagesordnung und beweise, dass sich die Gesellschaft seit der orangen Revolution verändert habe: "2003 war es undenkbar, dass jeder seine Meinung sagt, ohne dass die Polizei einschreitet." Da es im Winter in der Ukraine viel zu kalt für Aktionen ist, sammelt Femen Informationen über die Prostitution, um später mit Argumenten ihre Anliegen durchzusetzen. Die offiziellen Angaben, wonach es im 47-Millionen-Einwohner-Land nur 12 000 Prostituierte gibt, hält Anna Hutsol für untertrieben. Sie fordert keine Legalisierung der Prostitution, sondern will vielmehr die Freier kriminalisieren - bisher gibt es nur Strafen für Huren und ihre Zuhälter. Noch ignoriert die Politik die Ideen von Femen: Im Rahmen einer Performance vor dem Regierungsgebäude übergab Hutsol im September einen Brief mit Vorschlägen. Die einzige Antwort kam per Post vom Anti-Aids-Komitee, das Femen gar nicht kontaktiert hatte. In dem Schreiben stand schlicht: "Leider sind wir nicht zuständig." Hutsols Augen blitzen wütend, wenn sie über Politik spricht. Wie die Mehrheit ihrer Landsleute ist sie von Präsident Viktor Juschtschenko und Premierministerin Julia Timoschenko, den Protagonisten der Revolution, enttäuscht und denkt nicht gern daran zurück, wie sie 2004 frierend mit Zehntausenden gegen die gefälschte Präsidentschaftswahl demonstrierte. "Meinungsfreiheit ist die einzig gute Sache, die geblieben ist", sagt Hutsol. Sie wird nicht locker lassen und möchte den Rummel um die Fußball-Europameisterschaft 2012 nutzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Denn bisher spielt das Problem bei den Vorbereitungen für das Turnier keine Rolle - ginge es nach Femen, dürften ertappte Sextouristen nicht mehr einreisen. Kyrill Savin rechnet nicht mit schnellen Änderungen, da zu viele vom bestehenden System profitierten. "Die Miliz deckt die Netzwerke auf, um selbst Geschäfte zu machen", berichtet der Experte der Böll-Stiftung. Die Polizisten drohten den Mädchen, ihre Eltern oder die Hochschulen zu benachrichtigen. Aus Angst zahlten die Frauen Schutzgeld oder leisteten sexuelle Dienste. "Korruption in der Ukraine gleicht einer Pyramide: Von jedem Bestechungsgeld geht etwas nach oben und die Vorgesetzten verdienen mit", erklärt Savin. Es gibt aber Fortschritte: Femen steht in Kontakt mit einigen engagierten Polizisten und wird sich bald offiziell registrieren. Auch von anderer Seite kommt Hilfe: Beate Schober lebt seit zwölf Jahren in Kiew und betreibt ein Online-Portal für westliche Ausländer, auf dem sich Femen nun präsentiert. Die 59-Jährige findet es "grässlich, wie sich viele Ausländer den ukrainischen Mädchen gegenüber verhalten". Im Frühjahr will DJ Hell aus Berlin die Gruppe musikalisch unterstützen und auch aktiv an Aktionen teilnehmen. Im starbesessenen Kiew ist Aufmerksamkeit garantiert, wenn ein berühmter Techno-DJ anreist. Hell hat mehrmals in Kiew aufgelegt und will seinen Namen nutzen, um Femen noch bekannter zu machen: "Die Lage ist erschreckender, als man sich das in Deutschland vorstellen kann." ------------------------------ Kaum Zahlen Über Prostitution in der Ukraine gibt es wenig Daten. Experten halten die offizielle Zahl von 12 000 für viel zu niedrig. 117 000 Frauen haben nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) seit 1991 das Land verlassen und werden in Westeuropa zur Prostitution gezwungen. Das Phänomen Sextourismus wird von den Behörden völlig ignoriert - es ist lediglich zu erfahren, dass 2007 22 Millionen Touristen die Ukraine besucht haben. Mehr über Femen: www.go2kiev.com/view/femen.html

 

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